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Warum ich meinem eigenen Wikipedia-Eintrag nicht traue...
Dennis Riehle
  • 04. August 2022

Warum ich meinem eigenen Wikipedia-Eintrag nicht traue...

Von Dennis Riehle | Konstanz

Kommentar zur großen Online-enzyklopädie

Vor vielen Jahren gab ich meinen Namen in eine Suchmaschine ein – und war verblüfft, als ich das Ergebnis sah: An oberster Stelle erschien ein „Wikipedia“-Eintrag, der offenbar meine Person behandelte: de.wikipedia.org/wiki/Dennis_Riehle. Erstaunt über die Tatsache, dass es anscheinend wildfremde Menschen gab, die meine Persönlichkeit als derartig wichtig erachteten, für sie einen Text in der „freien Enzyklopädie“ anzulegen. Und ich war wirklich positiv überrascht gewesen: Wesentliche Teile des Beitrags entsprachen der Realität – und wurden wahrheitsgetreu wiedergegeben. Dass ich als einfacher Autor einen Platz in diesem Lexikon finden würde, ehrte mich sehr. Doch meine Begeisterung währte nicht lange fort: Schon bald wurden am Eintrag immer wieder neue Veränderungen vorgenommen, die sich zunehmend von der Realität entfernten, oftmals überaltert oder gänzlich falsch waren. Verschiedene Autoren machten sich mittlerweile am Text zu schaffen.

Das waren Funktionäre von „Wikipedia“ selbst, aber auch anonyme Nutzer, die so manche Wahrheit durcheinanderbrachten, tendenziöse Inhalte publizierten und damit einen Gesamteindruck meiner Person kreierten, den ich selbst nicht mehr wiedererkannte. Die Folge war schließlich, dass der Beitrag wiederholt zur Löschung oder zur Diskussion markiert wurde. Er hat viele Debatten überstanden, scheint mittlerweile aber nicht mehr neutral zu sein. Dass ich diesem Geschehen lediglich als Zaungast zusehe und mich über jede neue Änderung verwundere, brachte mich schließlich dazu, dem Text über meine eigene Person nicht mehr zu trauen und eher auf jede Anpassung des Eintrags gespannt war. Dass „Wikipedia“ rufschädigend sein kann, ist nicht wirklich neu. Dass ich dort allerdings Dinge über mich erfuhr, welche ich selbst noch nicht kannte, machte mich doch ein wenig stutzig. Dass sich mir unbekannte Menschen an meiner Lebensgeschichte zu schaffen machten und eine scheinbare Wirklichkeit schufen, die zeitweise nicht mehr viel mit der echten Tatsächlichkeit zu tun hatte, besorgte mich nicht nur im Blick auf meine Person.

„Wikipedia“ will sich als eine niederschwellige Informationsquelle verstehen. Doch mit ihrem Anspruch, frei und demokratisch zu sein und eine Enzyklopädie zum Mitmachen geschaffen zu haben, scheint man längst gescheitert. Da bestimmen einige Wenige darüber, welche Einträge online gehen und welche Korrekturen an Artikeln zugelassen werden. Das hat eher oligarchische Strukturen – und wenig mit Mitbestimmung der Vielen zu tun. Denn auch wenn theoretisch jeder an den Texten Veränderungen vornehmen kann, obliegt es letztlich den legitimierten Administratoren, diese freizugeben oder zu verwerfen. So konnte ich auch bei meinem Eintrag die Situation beobachten, dass Aktualisierungen und Ergänzungen offenbar mit viel Mühe und ausführlicher Quellenangabe zusammengetragen wurden, schlussendlich von einzelnen „Wikipedia“-Mitwirkenden rückgängig gemacht werden, weil sie einen distanzierten Sprachstil vermissten oder singulär meinten, Textteile entsprächen nicht den Anforderungen eines Lexikons. Letztendlich herrscht in der Enzyklopädie Willkür und das repräsentative System ist gescheitert.

Denn die Kontrolle über die immer wieder gleichen Admins, die sich an Einträgen verwirklichen wollen und Textpassagen nach ihrem Gusto streichen oder ändern, fehlt ganz offenkundig. Es sind die Einzelnen, die über ein gemeinsames Projekt herrschen und die Option haben, Menschen nach ihrem Willen im öffentlichen Licht nach Belieben so darzustellen, dass ihre subjektive Objektivität gewahrt bleibt. Doch wer bestimmt tatsächlich, was über eine Personen, einen Gegenstand oder ein Thema tatsächlich wissenswert ist? Individuen sind in der Regel stets voreingenommen, nur ein kritisches Korrektiv der Vielen kann vor Vereinnahmung schützen. Ursprünglich war dieser Gedanke der gegenseitigen Überprüfung durch die Gesamtheit aller Nutzer oberstes Ziel von „Wikipedia“. Mittlerweile ist das Lexikon zu einem Abbild solcher Nachrichten und Fakten geworden, die die ausgewählten Funktionsträger des Projekts für richtig, erwähnenswert und nachhaltig ansehen.

Am Ende sind Beiträge in der Enzyklopädie mit wachsender Vorsicht zu genießen. Denn viele Artikel liefern nur einen begrenzten Blick auf das jeweilige Subjekt. Selektion und Verzerrung, aber auch eine bewusste Fokussierung auf Nebensächlichkeiten haben nunmehr Einzug gehalten. Nein, „Wikipedia“ soll in keinem Fall Werbeplattformen für Persönlichkeiten oder Dinge werden, die unreflektiert nur das Positive aufzeigt. Das wäre in einem Land der Meinungsfreiheit unangemessen. Doch gleichzeitig darf sie auch nicht zur Plattform von Denunziation werden. Das Maß dazwischen zu finden, scheint dem Lexikon in seinem derzeitigen Aufbau aber sehr schwer zu fallen und es wird seinen eigenen, zu Anfang formulierten Kriterien und Ansprüchen nicht mehr gerecht. Entsprechend lohnt es sich durchaus sehr, jede Information und Darstellung aus „Wikipedia“ gegen zu prüfen und sich selbst abseits dieses Angebots ein Gesamtbild darüber zu machen, wonach wir suchen. Die Enzyklopädie sollte nicht das alleinige Medium sein, über das wir uns Wissen beschaffen. Dafür ist es zu unstet und anfällig für Torpedierung und Untergrabung.

Ich habe mittlerweile aufgehört, die „Versionsgeschichte“ meines Eintrages nachzuverfolgen. Die ständigen Änderungen am Text durch Dritte entbehren heute meist jedem Ansinnen auf Zuverlässigkeit und Vollständigkeit. Offenbar müssen wir im 21. Jahrhundert damit zurechtkommen, dass sich Andere an unserer Vita vergreifen. Jeder muss für sich entscheiden, welche Mischung aus Informationsquellen am zuverlässigsten ist. Ich bin froh, dass ich selbst am besten über mich Bescheid weiß. Was „Wikipedia“-Administratoren aus mir machen, lässt mich in Zeiten der kaum noch zu bändigenden Aktivität des Internets mit all seinen Nachteilen recht kalt. Gleichsam habe ich für mich entschieden, wieder auf das bewährte Lexikon in gedruckter Form zurückzugreifen, wenn ich tatsächlich an normativen Fakten und nicht geschwärzter Wahrheit interessiert bin. Die bekannte Enzyklopädie des Webs braucht eine Überarbeitung, wenn sie ihren Ruf halten will. Die derzeitigen und kaum nachvollziehbaren Regelungen über die Hoheit der Einträge hat sich als unbrauchbar und obsolet erwiesen. „Wikipedia“ ist zum Spielball für all jene geworden, die über Andere bestimmen möchten. Die Gier nach Macht lässt aber jede Unabhängigkeit zurück. Wer Wissen verbreiten will, sollte zuerst Verantwortung üben.


Ressort: Bildung und Kultur

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