- 29. Dezember 2021
No same procedure again!
Gedanken zum Jahreswechsel 2021/2022
Es ist das zweite Silvester, das wir unter Corona-Bedingungen verbringen. Wieder starke Kontakteinschränkungen, erneut ohne Feuerwerk und die Party kann nicht stattfinden. Der Start nach 2022 wird also deutlich ruhiger ausfallen, als wir das aus der Vergangenheit gewohnt sind. Dennoch beklagen wir uns auf einem hohen Niveau. Immerhin müssen wir sehen, dass die Worte von Erich Kästner diesmal eine ganz praktische Bedeutung bekommen: „Wird's besser? Wird’s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich!“ – Unsere Ausgelassenheit könnte bei einem Altjahresabend ohne Rücksichtnahme wirklich manch einen von uns auf die Intensivstation bringen – nicht wegen Trunkenheit, sondern wegen Omikron!
Viele in der Gesellschaft haben die Pandemie satt. Und die Aussicht, dass das neue Jahr nochmals eine Steigerung der Dramatik bringen könnte, macht uns mürbe und ratlos. Trotzdem lassen uns „Boosterungen“ und die Verantwortlichkeit einer großen Mehrheit der Menschen doch hoffen – und vielleicht können wir in das Zitat des Komikers Oliver Kalkhofe einstimmen: „Uns allen wünsche ich, dass das nächste Jahr nur halb so bescheuert wird wie dieses“.
Wenn wir uns letztlich klarwerden wollen, dass eine Katastrophe von nahezu apokalyptischem Ausmaß trotz aller Widrigkeiten und des Elends, das wir in Krankenhäusern und in den ärmsten Regionen der Erde mit ansehen müssen, immernoch für die meisten von uns lediglich eine minimale Beeinträchtigung jenes Lebensstandards bedeutet, den die meisten Generationen vor uns nie erleben konnten, sollten wir beispielsweise auf Zeiten blicken, in denen es tatsächlich um das große Ganze ging. Dietrich Bonhoeffer schrieb in seinem letzten Lied zum Jahreswechsel, welches er noch vor dem Tod unter dem Nazi-Regime zu Papier bringen konnte, unter anderem folgende Worte: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leid, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand“ (EG 65.3 – Evangelischer Presseverband für Baden e.V. (1995): Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Baden, Karlsruhe: 1. Auflage).
„Von guten Mächten“ – dieses Kirchenlied wird in den protestantischen Gemeinden an Silvester gesungen, weil es deutlich macht, dass wir auch mit dem Blick ins Ungewisse von morgen, diesem neuen Jahr, das vor uns steht, Vertrauen haben können. Egal, ob diese Zuversicht nun in einem Gott fußt oder in einer anderen Kraftquelle. Gerade in der Covid-Epidemie macht uns die Perspektive große Sorgen, dass wir gar nicht mehr aus der Endlosschleife herauskommen mögen. Unser Zähneklappern ist angesichts dessen, was Bonhoeffer bevorstand, aber äußerst relativ. Schlussendlich war dem Widerstandskämpfer klar, dass er ermordet würde. Und dennoch hatte er zumindest in seinen Liedzeilen keine Angst, sondern war sich gewahr, die bevorstehende Bürde anzunehmen – und mit Dankbarkeit zurückzublicken, mit Hoffnung gleichsam nach vorne. „Führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen“ (Strophe 5) hat Bonhoeffer zwar gänzlich anders gemeint, aber sein Vers kann auf die heutige Zeit übertragen werden: In Momenten der Seuche ist von uns Zusammenhalt gefordert – und nicht ein Kleinklein der Unannehmlichkeiten, über die wir uns aktuell beschweren. Viel eher macht uns der gläubige Christ 1944/1945 deutlich, dass wir „getrost warten können, was kommen mag“ (Strophe 7).
Diese Gelassenheit war ihm wohl nur deshalb möglich, weil er sich der Endlichkeit klar war. Etwas, was uns in unseren Dekaden sichtlich schwerfällt. Wir verleben jeden neuen Tag, als gäbe es unendlich viele von ihnen. Und auch die Jahre vergehen ohne Bewusstsein, wonach sie nicht unzählig sind. Jochen Klepper schrieb 1938 ebenfalls in einem Lied zur Jahreswende (EG 64.4): „Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist“. Ja, unsere Silvesterfeiern haben Konzept, mittlerweile sogar Corona-Routine. Wiederkehrend begehen wir den Übergang von einer Periode in die nächste ohne Wahrnehmung ihrer Einzigartigkeit. Wie viele Dinge in unserem Dasein zur bloßen Wiederkehr degradiert und damit zur Normalität erklärt werden, obwohl sie eigentlich etwas Besonderes sind, macht der Silvester-Klassiker „The same procedure as every year“ deutlich. Allein der Umstand, dass Millionen Zuschauer sich diesen Sketch jedes Jahr wieder im Fernsehen anschauen wollen, unterstreicht sehr eindrücklich, dass wir der Gleichförmigkeit und dem Alltagstrott verfallen und gegenüber der Wundersamkeit des Neuen vollends abgestumpft sind.
Bonhoeffer und Klepper konnten in existenzieller Notlage, die weit über die Eskalation der momentanen Corona-Lage hinausgeht, Genügsamkeit finden und mit dem Leben Frieden schließen, weil sie sich die Vergänglichkeit vor Augen geführt haben. Denn nur dann ist es auch für uns möglich, aus dem Hamsterrad auszubrechen und „uns böser Tage schwere Last“ (EG 65.2) entsprechend ohne Groll und Verzagen anzunehmen. Nein, das hat nichts mit einer etwaigen Todessehnsucht zu tun – im Gegenteil. Wenn wir um ein Ende in der näheren oder weiteren Ferne wissen, dann gelingt es uns viel leichter, das Hier und Jetzt zu würdigen und zu genießen. Solange wir in der Eintönigkeit der immer gleichen Vorsätze für das neue Jahr festhängen, verwehren wir uns eines Durchstartens in einen tatsächlichen Neuanfang. Nein, es braucht eben nicht „the same procedure as last year“. Viel eher sollten wir es wagen, die Prozedur zu durchbrechen und die Leier vom kiloweisen Abnehmen, weniger Alkohol Trinken und mehr Sport Treiben in 2022 durch etwas Mutigeres, Innovativeres ersetzen. Es ist dabei auch nicht verwerflich, sich zumindest ebenso für einige Minuten im neuen Jahr aus der medialen, politischen und gesellschaftlichen Tretmühle von Corona, Krankheit und Krise auszuklinken.
Christian Morgenstern hat das Zitat geprägt: „Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein“. Finden wir also neue Formen der persönlichen Erfüllung und nehmen wir uns Werte für 2022 vor, die nicht nur den eigenen, oberflächlichen Anschein wahren sollen, sondern stattdessen mit Solidarität verbunden sind. Das ist in Phasen der Pandemie nicht nur ein Trend und Kult, sondern auch ein Gewinn für das persönliche Dasein. Ob es nun der Vorsatz ist, mit mehr Achtsamkeit durch die Zeit zu gehen – und damit nicht nur unsere Umwelt bewusster wahrzunehmen und die Schönheit der irdischen Existenz zu spüren, sondern auch befähigt zu sein, Missstände von Anderen zu erkennen und Mitgefühl zu zeigen. Oder vielleicht ein bisschen mehr Nachhaltigkeit. Nicht im Sinne einer ideologisierten Kasteiung, sondern eines bewussten Verzichts von Luxusgütern, die uns von der Wesentlichkeit der Gegenwart ablenken und gleichsam dafür sorgen, dass unsere Welt ungerechter und ausgebeutet wird. Oder auch ein Plus an Bescheidenheit und Zufriedenheit, welche uns deutlich machen, dass wir auch dann im Wohlstand und in Freiheit leben, wenn vorübergehend manch ein Grundrecht eingeschränkt ist und wir statt des Besuchs im Nobelrestaurant oder in der abendlichen Diskothek wieder einmal ein Buch zur Hand nehmen oder eine CD auflegen – und uns an der Schlichtheit des Glücklichseins erfreuen können. In jedem Fall gilt: Machen wir es anders als sonst, denn nur Veränderung rüttelt wach und erdet – und macht das Hiersein zu mehr denn nur Gewohnheit…
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