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Naivität allerorten...
Demokratie ©Gerald Kaufmann
  • 14. Juni 2022

Naivität allerorten...

Von Dennis Riehle | Konstanz

Kommentar zu Krieg, Pandemie, Klimawandel und Tankrabatt

In Deutschland grassiert ein neues Syndrom: Die Neigung zur Naivität hat bereits viele Politiker erfasst – und droht zu wachsender Verdrossenheit der Bürger beizutragen. Da ist beispielsweise noch immer die Gutgläubigkeit mancher Linker, man könne den Krieg Russlands gegen die Ukraine mit dem Rauchen der Friedenspfeife gewinnen. Zweifelsohne: Die allermeisten Menschen wünschen sich ein sofortiges Ende der Gewalt durch Diplomatie und Gespräche. Doch wir haben den Machthaber im Kreml mittlerweile alle bestens kennengelernt. Er hat uns über Jahre an der Nase herumgeführt und zeigt wahrlich kein Interesse, sich auf etwaige Zugeständnisse einzulassen. Niemand guten Willens kann Aufrüstung und noch mehr Waffen gutheißen – wenn es nach unseren Herzen geht. Aber der Verstand lässt uns klar und deutlich erkennen: Gegen Putin und seine Schergen hilft der Pazifismus nicht.

Der Geist von Bomben, Panzern und Gewehren ist aus der Flasche. Und selbst Margot Käßmann wird ihn nicht mehr einfangen können. Viel eher lacht man sich in Moskau ins Fäustchen, dass es in der westlichen Hemisphäre noch immer Parteien und Personen zu geben scheint, welche an ein baldiges Ende der Kämpfe denken. Dabei machen dir wirren Reden des russischen Präsidenten seine Großmachtphantasien deutlich, die mit einem Einlenken eben gerade nicht in Einklang zu bringen sind. Er verheizt die eigenen Soldaten wie Kanonenfutter, ohne Rücksicht auf Verluste. Wer unter diesen Umständen noch ernsthaft meinen möchte, dass sich Putin von der eigenen Stilisierung zum Zaren zurückziehen wird, muss tatsächlich naiv sein. Wenn die Ukraine – wie von manch einem weisen Politiker des Westens oder gewissen Militärstrategen angeraten – Gebietsabtretungen zustimmen sollte, um Frieden zu erreichen, wird Moskau sehr gewiss sein: Die Verschiebung von Staatsgrenzen ist möglich, wir müssen nur lange genug tyrannisieren. Es ist töricht, die Welt in die Vorzeit von Herrschsucht zurücksetzen zu wollen.

Doch Naivität gibt es auch im Inland: Schon wieder warnt Minister Lauterbach vor der nächsten Corona-Welle. Und die Ständige Impfkommission empfiehlt mittlerweile sogar Immunisierungen gegen Affenpocken für vulnerable Gruppen. Glaubt man denn im Gesundheitsministerium noch immer, mit den Fehlern der vergangenen zwei Jahre einen Blumentopf gewinnen zu können? Die ständige Panikmache hat die Menschen nur ermüdet, sie interessieren sich deshalb nicht mehr für Covid-19 und Pocken, weil sie die dauernden Mahnungen leid sind. Wer wirklich annimmt, man könnte die Gesellschaft nur mit erzwungener Vorsicht vor dem Virus schützen, irrt sich gewaltig. Denn sie lässt uns abstumpfen und desensibilisiert. Niemand will die gebetsmühlenartigen Einlassungen des Bundesinfektionsministers länger hören. Vom einstmals so populären Bekämpfer der Pandemie ist Lauterbach zur echten Belastung für die Regierung geworden. Gerade, weil er aufgrund seiner Fokussierung auf die Corona-Lage sämtlich gesundheitspolitischen Herausforderungen der Zeit außer Acht lässt und sich weder um den Fachkräftemangel in der Pflege, das Sterben der Kliniken vor Ort, kletternde Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung oder die immer dünner werdende Versorgung mit Ärzten und Psychotherapeuten in der Peripherie schert. Seine Blauäugigkeit nervt und entsetzt. Während wir nicht mehr wissen, ob wir Impfung Nummer 4, 5 oder 6 in Arm, Bein oder Hirn spritzen sollen, denkt Lauterbach, mediale Präsenz erpressen zu wollen, indem er auch bei abflauender Inflation den Zeigefinger vor dem nächsten Winter erhebt. Denkt er denn tatsächlich und ernsthaft, dass die Menschen derart verantwortungslos und vergesslich sind, um nicht selbst zu wissen, dass uns Übermut schon letzten Herbst dramatische Entwicklungen brachte? Wer versucht, Bürger zu bevormunden und ihnen Lernfähigkeit abspricht, gibt sich als ahnungslos – und nicht als Menschenkenner, der Lauterbach gerne sein möchte.

Und dann der Klimawandel: Thunberg und Neubauer sind mit „Fridays for Future“ weiterhin omnipräsent. Andere Aktivisten gehen noch weiter und glauben wirklich, Veränderungen durch das eigene Festkleben auf die Fahrbahn erreichen zu können. Eine offenbar treuherzige Arglosigkeit übermannt die Jugend von heute und morgen, wenn sie gewiss ist, mit Verboten gegen die Erderwärmung ankämpfen zu wollen. Statt sich an die wahren Verursacher von Treibhausgasen zu wenden, fordern sie vom besitzlosen Hartz-IV-Empfänger Verzicht. Neureiche Vertreter der besserwisserischen Umweltbewegung in Deutschland glauben sich auf einer Insel der Weisheit zu sehen, indem sie jedwede Möglichkeit des Übergangs ausschließen und Technologien wie die Atomkraft ideologisch aus aller Diskussion ausklammern – obwohl sie andernorts nicht ohne Grund eine Renaissance erlebt. Die Kämpfer für eine bessere Welt wollen breitflächige Elektroautos schon in den kommenden Jahren, vergessen dabei aber völlig anstandslos die fehlende Infrastruktur und die weiterhin nur mangelnde Speicherkapazität solcher Fahrzeuge. Wer damit von Konstanz bis Sylt kommen möchte, benötigt auch weiterhin Tage – wenn ihm denn ein Auffinden der nächsten freien Ladesäule überhaupt gelingen möge. Echte Alternativen stehen weiterhin im Startloch, gerade Wasserstoff bleibt in seinen Versprechungen bisher viele Antworten schuldig. Geht es nach den Klimaaktivisten, brennen Öl- und Gasheizungen übermorgen aus, unabhängig von der Frage, wie Energie für den Kleingrundbesitzer mit bescheidenem Eigenheim abseits von Fernwärme und geeigneter Solardach-Neigung erzeugt wird. Unternehmen werden mit Unmengen an Subventionen des Staates versehen, während der Vermieter einer Wohnung innerhalb von wenigen Jahren fünf- und sechsstellige Investitionen aus eigener Tasche finanzieren soll. Eine solch unkritische Denkweise ist nur denen möglich, die klimapolitischen Idealismus über jedwede Realität stellen.

Zuletzt dann noch das lästige Thema des Tankrabatts: Die spätestens seit Westerwelle und Lindner zur libertären Kraft verdorrte FDP gibt sich als Versteher über Finanzen und Wirtschaft gleichermaßen, zeugt in der Praxis von Unwissenheit und Einfalt. Die immer selben Totschlagargumente ziehen aber nicht mehr, weil mittlerweile in den diversen Ländern der EU und weltweit Übergewinnsteuern zur Selbstverständlichkeit gehören. Doch nicht in Deutschland, weil die Freien Demokraten "Willkür" und eine Abwanderung der Industrie fürchten. Letztere muss als Grund für die Ablehnung höherer Abgaben seit jeher herhalten. Dabei haben Studien bereits mehrfach gezeigt: Selbst bei Vermögens- und höheren Einkommenssteuern für die Reichsten haben diese das Land bisher kaum verlassen. Denn für Standortattraktivität zählt eben mehr als die alleinige Frage der Belastung, die der Staat Großunternehmen und Konzernen auferlegt. Die Millionäre und Milliardäre dieses Landes haben mehrfach ihrerseits gesagt, dass sie zu einer Beteiligung an den Krisenkosten bereit sind. Doch die Liberalen verwehren entsprechende Schritte der Ampel-Koalition und nehmen jeden Wind aus der notwendigen Debatte über Verteilungsgerechtigkeit, die zuletzt sogar der sich sonst in die Tagespolitik kaum einmischende Bundespräsident ernstlich angemahnt hat. Selbstverständlich wäre es problemlos möglich, „Übergewinne“ zu definieren und Wahllosigkeit entgegenzuwirken. Dass sich FDP-Politiker mit den immer gleichen Sätzen von der Innovationskraft vor die Gewinner der Pandemie und des Krieges stellen, zeigt nur deren leichte Verführbarkeit: Obwohl die wenigstens Liberalen selbst etwas von der Blockadehaltung gegenüber Solidaritätsbeiträgen der besonders Reichen haben dürften, verfallen sie dem Reiz der Spendenwilligkeit jener Firmen, die schon in der Vergangenheit der FDP satte Zuwendungen zukommen ließen – wenn man sich bei den Freien Demokraten politisch für die Schonung ihrer Besitztümer einsetzen würde. Die Partei ist zur reinen Klientelpartei geschrumpft, die mittlerweile nicht nur Rentner gegen sich aufbringt. Die Naivität, tatsächlich an die Beteuerungen von „BioNTech“ und Co. zu glauben, Übergewinne ausschließlich in neue Investitionen zu stecken, ist schon beeindruckend. Niemand will dem Mittelständler an seine kleinen Gewinne, wenn er sie tatsächlich wieder in den Wirtschaftskreislauf steckt. Aber es gibt nur wenig gute Gründe, warum manch ein Firmeninhaber und Manager auf zig Millionen sitzt, ohne für diese exorbitanten Vermögen eine Zusatzsteuer entrichten zu müssen. Vorschläge, Abgaben für Summen über drei oder fünf Millionen Euro nur dann zu erheben, wenn diese angesammelten Gewinne nicht reinvestiert werden, sind letztlich für jegliches Schonvermögen unschädlich. Genauso folgenlos wäre es für die Liberalen auch, ihren Bundesfinanzminister wegen seiner Arbeitsverweigerung zu rüffeln. Sein guter Glaube, die EZB wird die Inflation schon richten, hat sich mit der Ankündigung zur Erhöhung des Leitzinses um mickrige 0,25 Prozent in Luft aufgelöst. Der gesamte Instrumentenkasten der Fiskalpolitik stünde Lindner zur Verfügung. Doch er will nicht.

Naivität und ein unbedarftes Gemüt scheinen derzeit in Mode. Für die Bevölkerung sind solche Spielchen durchsichtig – und hinterlassen Spuren in deren Gedächtnis. Immerhin sind wir nicht so dumm, wie es wohl manch ein Politiker oder Aktivist dieser Zeit anzunehmen vermag. Viel eher zeigen die Deutschen ein feines Gespür für jegliche Versuche der Gegenwart, uns als Abnehmer treudoofer Ideen zu verniedlichen. Vertrauensseligkeit funktioniert so lange, bis sie der Bürger endlich durchschaut. Spätestens dann reagiert er empfindlich auf Maßnahmen, die er als begrenzt Einfluss nehmender Souverän der repräsentativen Demokratie treuherzig abnicken soll. Schlussendlich droht sich nicht nur das meteorologische Klima zu vergiften. Erst, wenn die Menschen von ihren Vertretern nicht mehr als die infantile und gutmütige Masse diskreditiert und stiefmütterlich behandelt werden, wird sich auch die gesellschaftliche Erhitzung wieder relativieren. Doch dafür braucht es noch viel Aufrichtigkeit…


Ressort: Politik

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