- 05. Mai 2022
Frei nach Robert Lembke: „Welches Horrorszenario hätten ’S denn gern?“
Kommentar zum Botschafter
„Und täglich grüßt das Murmeltier“: Wer angesichts sinkender Corona-Fallzahlen die regelmäßigen Wortbeiträge des Bundesgesundheitsministers zur pandemischen Situation vermisst, wird nun endlich entschädigt. Nachdem uns Prof. Lauterbach bei einer mittlerweile zunehmend wegbrechenden Argumentationsgrundlage die Vision von „Killervarianten“ nicht mehr um die Ohren hauen kann, hat sich sein Nachfolger als medialer Grußonkel bereits öffentlichkeitswirksam in Stellung gebracht: Jetzt ist es Diplomat Melnyk, der uns jeden Morgen neu erklärt, dass wir kurz vor dem Atomkrieg stehen und Deutschland durch seine Trägheit maßgebliche Schuld daran haben wird, wenn die Welt schon nächste Woche untergehen dürfte.
Welches Horrorszenario nun das ansprechendere ist, wird sich nach dem persönlichen Gusto des verblüfften Zuschauers richten, der sich die Augen darüber zu reiben vermag, dass sich so schnell ein adäquater Ersatz für Sorgenvater Karl gefunden hat. Ukraines Botschafter versteht es in einer hervorragenden Art und Weise, uns allen ein schlechtes Gewissen einzureden. Er übersteigt mit seiner bravourösen Fähigkeit der Dramatisierung Lauterbachs Angst und Furcht vor Variante XY des Virus bei weitem. Und er steht dem SPD-Politiker auch in seiner Medienkompetenz kaum nach.
Während sich der Gesundheitsminister vom Jetlag seiner Omnipräsenz erholt, nimmt Melnyk seinen Platz bei Maischberger, Will und Illner ein. Vorbildlich setzt er die Kontinuität des erhobenen Zeigefingers und der schwingenden Moralkeule fort. Und weil es in Normalzeiten keinesfalls zu den Aufgaben des Vertreters eines ausländischen Staates in der Bundesrepublik gehört, in die Tagespolitik Deutschlands einzugreifen, rechtfertigt der Krieg nun auch die nahezu stundenweise über die sozialen Medien verbreiteten Forderungen Melnyks nach mehr Waffen, mehr Geld, mehr Hilfe. Lauterbach haben die Maßnahmen gegen Covid-19 nie gereicht. Und auch Kiews Repräsentant in Berlin genügt all das nicht, was der Kanzler bietet.
Der Wettbewerb der wechselseitigen Überbietung gewinnt an immer neuer Fahrt. Die Apokalypse wird kommen, darin scheinen sich Melnyk und Lauterbach vollkommen einig – wenn, ja wenn sich die „Ampel“-Koalition nicht endlich zu einem Höher, Schneller, Weiter durchringt. Ausnahmsweise ist es kein Armutszeugnis oder Beweis von Führungslosigkeit, wenn man von pressegeilen und selbsternannten Verstehern des irdischen Geschehens vor sich hergetrieben wird. Im Gegenteil: Ich habe nicht viel für die norddeutsche Schläfrigkeit des Kanzlers übrig. Doch dass er sich weder von seinem Minister Lauterbach, noch dem anstachelnden Botschafter Melnyk beeindrucken lässt, zeichnet seine Stärke aus. Auch in Krisen obliegt es der Politik, aber auch einem Diplomaten desjenigen Staates, in dem der größte Angriffskrieg seit Jahrzehnten herrscht, Besonnenheit und Ruhe zu vermitteln.
Wer sich wiederholt in neuen Superlativen versteigt, wird gerade dann, wenn es auch hierzulande wirklich ernst wird, nicht mehr für voll genommen. Dass Selenskjis Sprachrohr in Deutschland von den unerträglichen Bildern aus Mariupol, Butscha oder Donezk geleitet wird und kaum noch zu rationalem Denken und Fühlen imstande ist, mag ihm niemand verdenken. Und auch der Umstand, dass sich der oberste Gesundheitshüter des Landes um die Ausbreitung einer hochansteckenden Infektion Gedanken macht, ist nicht verwerflich. Schwierig wird ihr vehementer Einsatz erst, wenn der Außenstehende den Eindruck bekommt, dass es bei all den Warnungen und Mahnungen um Inszenierung und Selbstprofilierung geht.
Während uns Lauterbach zur Impfung mit ethischen und zwischenmenschlichen Plädoyers zur Impfung erpressen will, verfolgt auch Melnyk ein sehr durchschaubares Ziel: Durch Polarisierung der Öffentlichkeit soll der Druck auf die politisch Verantwortlichen zum Kriegseintritt erhöht werden. Nötigungsversuche auf allen Seiten: Es wird Zeit, dass die Bühne wieder denen überlassen wird, denen es um Verhältnismäßigkeit und die Sache geht.
Comments powered by CComment